Ohne jeden Beweis
(c) Martina Decker
Versonnen hing Marias Blick an der weißen Silhouette des Vollmonds.
Wie oft hatte sie ihn schon so angeschaut? Ihn wachsen und abnehmen sehen?
Seit Jörgs Beerdigung kam sie fast jede Nacht. Setzte sich auf die kleine Bank gegenüber von seinem Grab und hielt stumme Zwiesprache mit dem Mann, der versprochen hatte, ein ganzes Leben mit ihr zu verbringen.
An jenem Tag vor einem halben Jahr war Jörg noch einmal aus dem Haus gegangen, um Zigaretten zu holen. Sie waren beide aufgeregt gewesen und nervös. Nur noch wenige Stunden bis zu ihrer Trauung. Mann und Frau, bis dass der Tod sie scheidet. Beim Italiener um die Ecke hatten sie einen Tisch bestellt und das Essen für die zwanzig Gäste.
Jörg kam nicht wieder.
Stattdessen stand irgendwann ein uniformierter Beamter vor der Tür. Murmelte etwas von Unfall und Beileid. Maria hatte ihn angestarrt und nichts von alle dem verstanden.
Bis heute hatten sie das Schwein nicht fassen können, das Jörg beim Überqueren der Straße umgefahren hatte und feige geflohen war. Die Polizisten sprachen von widrigen Umständen und Einstellung des Verfahrens.
Maria zog tief die kühle Nachtluft ein.
Irgendwo da draußen gab es einen Menschen, der ihr alles genommen hatte – ihre Liebe, ihre Zukunft, irgendwie ihr ganzes Leben. Tränen liefen ihr über die Wangen. Tränen der Trauer und des Zorns.
„Wenn ich weiß, wer es war, werde ich ihn töten!“, murmelte sie und schaute entschlossen auf den marmornen Grabstein, der gerade eben von innen zu leuchten schien.
Im selben Moment spürte sie ein leichtes Beben unter ihren Füssen. Das Holz der Sitzbank vibrierte und die Schottersteine des schmalen Weges sprangen aufgeregt hin und her.
„Um Gottes Willen, was ist denn mit dem passiert?“
Angewidert schaute Kriminalhauptkommissar Berger auf die Leiche vor ihm. Die Augen waren weit aufgerissen und Berger glaubte auch jetzt noch das Entsetzen darin erkennen zu können.
Der Pathologe zuckte lapidar mit den Schultern. „Kann ich noch nicht sagen!“, meinte er. „Tatsache ist, da hat irgendwas kräftig dran rumgenagt. Das hier …“, er deutete auf die Stelle, wo eigentlich die Nase hätte sein sollen, „sind eindeutig Bissspuren. Wir machen einen Abdruck. Vielleicht kann ich Ihnen dann die Spezies sagen.“
Berger wandte sich ab. Der Toast vom Frühstück war schon wieder auf dem Weg nach oben. Er schluckte hart und sah sich suchend nach seinem Kollegen Derber um. „Derber!“, brüllte er auf Verdacht in die Menge Schaulustiger, die sich hinter der Absperrung mühten, wenigstens einmal in ihrem langweiligen Leben eine Leiche zu sehen. Berger wollte sich schon wieder umdrehen, als er den jungen Kollegen kommen sah.
„Chef! Schlechte Nachrichten. Kein Zeuge!
Niemand hat was gesehen oder gehört!“
Berger murrte etwas Unverständliches. „Aber“, meinte Derber, „wir haben einen roten Kleinwagen gefunden, der im Parkverbot stand. Der Halter ist seit gestern Abend unterwegs und seine Familie hat heute noch nichts von ihm gehört.“ Er machte eine kleine Pause und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Toten. „Vielleicht ist er ja …?“
Berger nickte. „Dann stehen Sie nicht rum und raten! Finden Sie es heraus. Ich will Ihren Bericht in einer Stunde auf meinem Schreibtisch!“ Abrupt drehte sich Berger weg und ging zu seinem Dienstwagen.
Kurze Zeit später in Bergers Büro
„Hm, unser Opfer ist also Jens Holler, 25 Jahre alt und Malergeselle. Der falsch geparkte Kleinwagen gehört ihm und die Leiche ist zerfressen!“ Bergers Blick ging vom vorläufigen Bericht zum Kollegen Derber. „Da werden doch keine Zombies unterwegs sein?“, meinte er mit einem grölenden Lachen.
„Aber Herr Berger …“ Derber sah ihn fast ängstlich an. „Sicher wird uns der Pathologe bald mehr sagen können. Soll ich noch mal den Mann befragen, der die Leiche gefunden hat?“
„Ja, tun sie das. Und am Besten auch noch mal alle anderen. Vielleicht erinnert sich jetzt doch noch jemand.“ Als die Tür hinter Derber in Schloss fiel, sah ihm Berger grinsend nach. „Weichei!“, dachte er.
Maria war glücklich wie seit Tagen nicht mehr.
Diese letzte Nacht auf dem Friedhof hatte alles verändert: Sie, ihr Leben und es würde die Welt verändern. Das Schönste aber war, dass ER doch Wort gehalten hatte. Mann und Frau – für immer. Vereint für den Rest ihres Lebens.
Sie hatte es gewusst, als die Erde vor ihren Füßen sich auftat. Als seine Hand sich aus dem feuchten Sand ihr entgegenstreckte. Als sie dieses Grunzen hörte, dass keine Worte hatte, aber dessen Sinn sie sofort verstand. „Hilf mir! Hilf mir hier raus!“
Ungehalten lief Berger in seinem Büro hin und her.
Derber saß zusammengesunken auf einem Stuhl in der hintersten Ecke und hoffte, der Chef würde endlich aufhören zu brüllen.
„Das ist der fünfte Tote in drei Wochen! Jede Leiche zerfleddert, angefressen … Und alle fuhren sie einen roten Kleinwagen. Verdammt! Das kann doch kein Zufall sein!“ Er haute mit der Faust auf den Tisch, an dem Derber saß. „Sagen Sie doch auch mal was, Derber, oder haben Sie Ihren Kopf nur, damit es nicht in den Hals reinregnet?“
Derber richtete sich sofort auf und versuchte dabei, dem schlechten Atem Bergers auszuweichen.
„Nein, Chef! Ich meine, ja Chef!“ stammelte er. „Kein Zufall! Vielleicht sollten wir ein Profil …?“
Bergers Gesichtsfarbe wurde noch eine Spur roter.
„OK, Chef, kein Profil. Ich könnte mal die Statistiken bemühen. Unfälle, Personenschäden etc. Vielleicht bringt uns das PKW-Modell da weiter?“
„Sieh an, Sie können ja doch denken! Warum nicht gleich so!“, zischte Berger. Vorsichtig schob Derber seinen Stuhl zurück. Er war schon fast aus der Tür, als Berger ihn noch einmal zurückpfiff. „Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie Ergebnisse haben!“
Dunkle Nacht lag über der Innenstadt.
Die meisten Menschen schliefen noch.
Nur Ute Beier war zu dieser Stunde schon unterwegs zur Fabrik. Ihre Schicht begann um fünf und ausgerechnet heute war ihr Wagen, ein alter roter Golf nicht angesprungen. Die Stille war fast schon unheimlich in einer Stadt, die sich Metropole nannte und täglich Tausenden Arbeit bot.
Ein Liebespaar kam ihr entgegen. Als Ute die schlurfenden Schritte vernahm, sah sie kurz auf. Die beiden schienen sich zu unterhalten, aber außer einem Grunzen verstand sie nicht, was sie sagten. Als das Pärchen näher kam, stieg Ute ein widerlicher Geruch in die Nase und dann spürte sie einen nagenden Schmerz.
Sie kam nicht mehr dazu, zu schreien.
„Zombies in der Stadt?!
Wieder eine schrecklich zugerichtete Leiche in der Innenstadt“, prangte am nächsten Tag in großen Lettern auf der Titelseite der Zeitungen. Wütend las Hauptkommissar Berger den Artikel. „So ein Blödsinn!“, murrte er. Das Telefon stand seit Stunden nicht mehr still und die Staatsanwältin hatte ihm bereits Inkompetenz und unsägliches Versagen vorgeworfen.
Dieser Irre da draußen spielte ein Spiel – ein verdammt grausames Spiel – mit ihm. Und er spielte es gut! Es gab keinerlei Hinweise auf den Täter. Wo war die Verbindung? Wo verdammt noch mal das Motiv?
Ein zaghaftes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. „Ja?“
In der Tür stand ein junger Mann mit wirrem Haar und einem viel zu weiten Pullover.
„Hauptkommissar Berger?“ Fragend sah er ihn an. Berger nickte. „Ich bin Martin Rover. Darf ich reinkommen?“ Ohne die Antwort abzuwarten, trat er ein und nahm auf dem Stuhl vor Bergers Schreibtisch Platz. „Ich kann Ihnen helfen!“ sagte er ohne Umschweife.
Berger lehnte sich zurück. „Wie?“
„Ich weiß, wie man Zombies aufspürt und vernichtet!“ Er grinste dümmlich-arrogant. „Eigentlich ist es ganz einfach …“
Berger holte tief Luft. Ohne den Blick von diesem Jungchen zu lassen, erhob er sich und baute sich vor ihm auf. „Raus! Aber sofort!“ Seine Stimme war leise, aber dadurch nicht weniger bedrohlich.
„Hier gibt es keine Zombies!“
In der folgenden Nacht starb ein weiterer Mann. Sein roter Kleinwagen stand vor der Kneipe, aus der der Mann gekommen war, der ihn nur Minuten später in einer dunklen Seitenstraße fand. Völlig schockiert von dem grausigen Anblick stammelte der Mann etwas von einem Pärchen, das fast zur gleichen Zeit die Straße entlang gegangen war. Leider konnte er die Personen nicht beschreiben. Nur an den Geruch von Verwesung und fauligem Fleisch meinte er sich genau zu erinnern.
„Der gehört in die Klapse!“, kommentierte Berger die Aussage. „Im besten Fall hat der Kerl einfach zu viel gesoffen.“
Die Ermittlungen kamen ins Stocken.
Es gab keine Zeugen, keine verwertbaren Spuren. Nur wilde Spekulationen, Gebissabdrücke, die laut Gutachten eventuell einem Menschen, möglicherweise aber auch einem affenähnlichen Tier zugeschrieben werden konnten. Der Gestank an den Tatorten ließ sich mit ungeleerten Abfallbehältern erklären, mit Dämpfen aus der Kanalisation oder selbst gebastelten Stinkbomben.
Und es gab kein neues Opfer.
So plötzlich, wie es begonnen hatte, war es vorbei.
Trotzdem kostete diese Mordserie Berger den Job. In den Augen der verängstigten Bürger und der Presse hatte er kläglich versagt.
Verbittert räumte er seinen Schreibtisch. Erst, als alle Kollegen längst gegangen waren, griff er zum Telefon. „Ich bin’s! Hol mich bitte am Präsidium ab.“ Sein Blick glitt ein letztes Mal durch das Büro, in dem er seit mehr als zwanzig Jahren Dienst getan hatte.
Der rote Kleinwagen seines Sohnes parkte direkt vor dem Eingang.
Vorne rechts war der Scheinwerfer immer noch defekt, bemerkte Berger ärgerlich. Vor ein paar Wochen hatte Basti ihm das Malheur mit der Gartenmauer und den verbeulten Kotflügel gebeichtet. Die Beule war längst gespachtelt und neu lackiert, aber das Licht …
Für einen Moment verhielt Berger im Schritt. Fauliger Gestank zog ihm in die Nase. Er musste ein Würgen unterdrücken und beeilte sich, den Karton mit seinen Habseligkeiten im Kofferraum unterzubringen.
Verwundert hörte er die Fahrertür schlagen, dann einen gurgelnden Laut. Als er sich umwandte, um nachzusehen, griff etwas Kaltes nach ihm. Mit Wucht wurde er zu Boden geworfen. Ein schauerliches Frauenlachen begleitete seinen Schrei, sein Herz schien zu bersten.
Und dann war da nur noch Dunkelheit
Beitragsfoto: Pixabay – keine weiteren Angaben gefordert
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