Bunt Vermischtes

KG – Einfach der Beste

Einfach der Beste

© Martina Decker

 

Tim saß auf der Brüstung der Brücke und starrte in die Tiefe. Unter ihm floss träge der Rhein. Die bunten Lampen eines Biergartens am Uferrand spiegelten sich auf der Wasseroberfläche. Von irgendwoher drang Gelächter zu ihm hinauf. Ab und zu fuhr ein Wagen hinter ihm vorbei. Doch keiner der Fahrer nahm Notiz von Tim.

Vielleicht, weil seine Silhouette mit denen der eisernen Streben im Dämmerlicht verschmolz.

Vielleicht,  weil die bizarren Schatten der Straßenlaternen ihn unsichtbar machten.

Vielleicht, weil es ihnen egal war.

 

Tim war es Recht. Er brauchte kein Publikum. Wollte kein hohles Gerede über den Sinn des Lebens und dass er doch noch so jung sei und es immer eine andere Lösung gäbe.

Er seufzte und beugte sich ein wenig weiter nach vorne. Ein Containerschiff schob sich langsam unter der Brücke hindurch. Die Bugwelle trieb plätschernd ans Ufer und wirbelte die bunten Spiegellichter durcheinander.

 

„Ganz schön hoch, was?“

Tim schreckte auf. Seine Hände griffen in einem Reflex um das Metall der Brüstung. Verblüfft sah er zur Seite. Neben ihm saß ein dunkelhaariger, schmächtiger Mann und ließ, genau wie er, die Beine über die Brüstung baumeln. Wieso hatte er ihn nicht bemerkt?

„Verschwinde! Ich will alleine sein!“ gab Tim brüsk zur Antwort.

„Ja, ich weiß. Übrigens: Ich heiße Rüdiger!“

„Scheiß Name – verschwinde trotzdem!“

Rüdiger lachte leise. Und er blieb. Schweigend schauten die beiden dem Containerschiff nach, wie es Stück für Stück in der Dunkelheit verschwand.

„Also, wie hoch? Was meinst du?“, begann Rüdiger von Neuem.

„Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Meter…“

„Nur fünfzehn… aber immerhin. Wenn du da unten ankommst… Bomm!“ Rüdiger unterstrich den gedachten Aufschlag mit einer ausholenden Armbewegung.

„Woher weißt du, dass ich springen will?“ Tim kniff die Augen zusammen und betrachtete den anderen jetzt eingehender. Verstohlen suchten seine Füße Halt zwischen den Eisenstäben des Geländers.

„Ich weiß es einfach“, meinte Rüdiger und lächelte Tim an.

„Fang jetzt ja nicht an, mir eine Moralpredigt zu halten. Ich habe meine Gründe.“

„Das glaube ich dir gerne. Lass’ uns trotzdem noch ein bisschen reden. Springen kannst du ja immer noch.“ Rüdiger redete in einem Ton, als wäre Tims Plan etwas völlig Normales.

„Du wirst nicht versuchen, mir das auszureden?“ Der Typ machte Tim neugierig. „Ach!“ Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Jetzt ist der Groschen gefallen. Du willst auch springen und traust dich alleine nicht. Soll ich dir das Händchen halten, Rüdiger?“

„Ich kann fliegen!“

„Du kannst…“ – Der Kerl ist irre, dachte Tim und schüttelte den Kopf. Sein Blick glitt über den Rücken des Fremden. „Ohne Flügel?“

„Vögel haben Flügel! Seh’ ich aus wie ein Vogel?“ Rüdiger sah Tim ernst an.

„Du spinnst doch total!“ sagte Tim und hoffte, dass es lässig geklungen hatte. Langsam machte der Mann ihn nervös. Ob der aus einer Anstalt abgehauen war?

Tim sah hoch zum Himmel. Dann ging sein Blick wieder nach unten aufs Wasser. Es würde sein, als stürze er auf Beton. Physik war immer sein Lieblingsfach gewesen – da lernt man so was.

Im gleichen Augenblick wäre er tot. Vielleicht würde sein Herz auch schon beim Sprung versagen…

„Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es könnte durchaus schmerzhaft werden.“ Rüdiger seufzte und schaute Tim mit seinen dunklen Augen traurig an. Der Junge war verwirrt. Hatte er laut gedacht? Oder woher wusste dieser komische Kauz, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war?

„Und? Willst du immer noch springen?“

 

Rüdiger griff nach Tims Hand. „Komm, wir tun es gemeinsam.“ Tim sah ihn ungläubig an und riss sich los. Für einen Moment verlor er das Gleichgewicht. Er kippte nach vorne und sah sich bereits fallen, doch irgendwie gelang es ihm, sich wieder aufzurichten und den Sturz zu verhindern. „Lass mich in Ruhe. Du willst mich mit in den Tod reißen, du spinnst wohl!“, schrie er den anderen panisch an. „Ich springe wann ich will, wenn ich soweit bin.“ Tim begann, über das Geländer wieder zurück zu klettern. „Und überhaupt, ich überlege es mir noch mal. Jetzt bin ich nicht mehr in Stimmung.“

Zitternd stand er auf dem Gehweg. „Solltest du auch besser machen!“ schlug er Rüdiger unsicher vor.

„Ja, vielleicht!“ entgegnete dieser. Im gleichen Augenblick erfasste der Lichtkegel eines Wagens den Jungen. Tim winkte. Überraschenderweise hielt der Fahrer an. Mit einem surrenden Geräusch senkte sich die Scheibe auf der Beifahrerseite ab. „Alles in Ordnung, junger Mann?“

Im Licht der Brückenlaterne erkannte Tim einen älteren Herrn.

„Würden Sie mich ein Stück mitnehmen?“ bat er.

Der Mann zögerte nur kurz. „Steig ein, Junge!“

Erleichtert öffnete Tim die Wagentür und ließ sich in den Sitz fallen. Als er nach dem Gurt griff, warf er einen vorsichtigen Blick zurück an die Stelle, wo er noch vor wenigen Minuten auf der Brüstung gesessen hatte. Der Fremde war verschwunden.

 

 

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