Fritz liebte es, seinen Vater, der der Hausmeisters war, auf seinen Gängen durchs Schloss zu begleiten. Denn dann durfte Fritz auch Teile des Gebäudes betreten, die ihm sonst verboten waren. Mit Vater war er sozusagen in offizieller Mission* unterwegs.
Der Junge trug stets ein kleines Notizheft mit sich herum, in das er den Grundriss des Gebäudes zu zeichnen versuchte. Sobald sein Vater etwas reparierte und ihm sein Jackett um die Schultern hängte, lehnte Fritz sich an die Wand und begann mit seinen Aufzeichnungen*. Der Vater sah sich die Zeichnungen genau an, lobte ihn für die Genauigkeit.
Die Haupträume beeindruckten* Fritz wegen ihrer Helligkeit, ihrer Größe und Geräumigkeit. Natürlich schaute er auch in die dunklen, mit allerlei Gerümpel* voll gestellten Nebenräume. Eine dieser Kammern hatte es ihm aus unerfindlichen Gründen besonders angetan. Jedoch hatte sein Vater ihm stets den Zugang verwehrt. Sonst begründete der Vater seine Verbote, aber hier …
Für einen kurzen Moment lehnte Fritz seinen Kopf an den eben vom Vater ausgebesserten* Türrahmen und spähte* ins Dunkel der Kammer.
Als Vater in diesem Moment gerufen wurde, nutzte Fritz die Gelegenheit. Er schlüpfte* in die Kammer und schloss vorsichtig die knarrende Tür hinter sich. Es dauerte ein Weilchen, bis seine Augen sich an das dämmrige* Licht gewöhnt hatten.
Fritz versuchte den durch den aufgewirbelten Staub erzeugten Hustenreiz zu unterdrücken. Und schnell musste er sein, da der Vater jeden Moment zurück sein konnte.
Fritz erschrak fürchterlich, als er im Halbdunkel eine schemenhafte* Person auf sich zukommen sah. “Nein!“, schrie er und hielt abwehrend seine Hände vors Gesicht. Dann war es ganz still. Nur sein Herzschlag war zu hören. Und dann merkte er, dass sein eigenes Spiegelbild ihn so ihn Schrecken versetzt hatte.
Da stand ein manns-hoher Spiegel in einem reich verzierten prächtigen* Goldrahmen. Die Spiegelfläche war reichlich verstaubt. Mit dem Ärmel wischte Fritz eine Stelle frei und sah in sein vom Schrecken noch blasses Gesicht. Mitten auf seiner Stirn war ein ziemlich großer dunkler Fleck. Wieder durchfuhr Fritz ein Schrecken. Woher kam dieser Fleck?
Was, wenn der nicht zu entfernen war? Wenn es ewig dauern würde, bis er verblasst war?
Fritz lehnte sein heißes Gesicht an den kalten Spiegel und trat dann ein wenig zurück. Jetzt sah er, dass nicht seine Stirn sondern der Spiegel einen blinden Fleck* hatte.
Erleichtert verließ Fritz den Raum. Er zog das Jackett* des Vaters mit dem vertrauten Geruch feste um seine Schultern. Sicher würde Papa gleich wiederkommen.
*offizieller Mission = einen Auftrag haben; es machen dürfen *Aufzeichnungen = anderes Wort für Notizen *beeindruckten = findet er toll *Gerümpel = viele alte Dinge, die niemand mehr haben möchte. *ausgebesserten = repariert *spähte = schaute vorsichtig *schlüpfte = hier: er geht schnell hinein *dämmrig = nicht hell, aber auch noch nicht dunkel *schemenhaft = wie ein Schatten; du siehst nur die Umrisse *prächtig = kostbar, wertvoll, sehr schön, glänzend, *blinder Fleck = auf dem Spiegel ist eine dunkle Stelle. Da sieht man kein Spiegel-Bild. Der Spiegel ist da kaputt *Jackett = Jacke
Die Geschichte zu dieser Geschichte
Zuerst einmal danke ich Angela für die Freigabe ihres Textes. Ich las ihn und wollte ihn unbedingt haben. Angela hat, ohne wirklich darauf abzuzielen, einen (beinahe) leichten Text geschrieben. Trotzdem ist er weder langweilig noch holprig. Eine ganze Geschichte – reduziert, spannend und mit Anfang und Ende.
Wörter, die meiner Erfahrung nach noch “schwer” sind, habe ich markiert und am Ende erläutert. Auf diese Weise kann nahezu jeder Text – auch richtig schwere Texte 😉 – so gestaltet werden, dass er mit unterschiedlichster Lesekompetenz genussvoll gelesen werden kann. Im Einzelfall können von mir als “schwere” Wörter für die meisten Leser einfach und selbstverständlich sein, andere, die ich für “leicht” erachtete, werden nicht verstanden. Ganz sicher kann ich mir als Übersetzerin immer nur dann sein, wenn ich den einzelnen Leser / die einzelne Lesergruppe genau kenne.
Zusätzlich unterstützen die Grafiken den Inhalt der Geschichte und sorgen für noch mehr leichtes Lesen.
Leichte(re) Sprache für Prosa
Dass das nicht unbedingt weniger Lesegenuss bedeutet, zeigt die kleine, aber feine Geschichte “Der blinde Fleck” von ©Angela Sohler de Vos.
mit geistiger Behinderung Bremen e.V.,
Illustrator Stefan Albers,
Atelier Fleetinsel, 2013
Fritz liebte es, seinen Vater, der der Hausmeisters war, auf seinen Gängen durchs Schloss zu begleiten. Denn dann durfte Fritz auch Teile des Gebäudes betreten, die ihm sonst verboten waren. Mit Vater war er sozusagen in offizieller Mission* unterwegs.
Der Junge trug stets ein kleines Notizheft mit sich herum, in das er den Grundriss des Gebäudes zu zeichnen versuchte. Sobald sein Vater etwas reparierte und ihm sein Jackett um die Schultern hängte, lehnte Fritz sich an die Wand und begann mit seinen Aufzeichnungen*. Der Vater sah sich die Zeichnungen genau an, lobte ihn für die Genauigkeit.
Die Haupträume beeindruckten* Fritz wegen ihrer Helligkeit, ihrer Größe und Geräumigkeit. Natürlich schaute er auch in die dunklen, mit allerlei Gerümpel* voll gestellten Nebenräume. Eine dieser Kammern hatte es ihm aus unerfindlichen Gründen besonders angetan. Jedoch hatte sein Vater ihm stets den Zugang verwehrt. Sonst begründete der Vater seine Verbote, aber hier …
Für einen kurzen Moment lehnte Fritz seinen Kopf an den eben vom Vater ausgebesserten* Türrahmen und spähte* ins Dunkel der Kammer.
Als Vater in diesem Moment gerufen wurde, nutzte Fritz die Gelegenheit. Er schlüpfte* in die Kammer und schloss vorsichtig die knarrende Tür hinter sich. Es dauerte ein Weilchen, bis seine Augen sich an das dämmrige* Licht gewöhnt hatten.
mit geistiger Behinderung Bremen e.V.,
Illustrator Stefan Albers,
Atelier Fleetinsel, 2013
Fritz versuchte den durch den aufgewirbelten Staub erzeugten Hustenreiz zu unterdrücken. Und schnell musste er sein, da der Vater jeden Moment zurück sein konnte.
Fritz erschrak fürchterlich, als er im Halbdunkel eine schemenhafte* Person auf sich zukommen sah. “Nein!“, schrie er und hielt abwehrend seine Hände vors Gesicht. Dann war es ganz still. Nur sein Herzschlag war zu hören. Und dann merkte er, dass sein eigenes Spiegelbild ihn so ihn Schrecken versetzt hatte.
Da stand ein manns-hoher Spiegel in einem reich verzierten prächtigen* Goldrahmen. Die Spiegelfläche war reichlich verstaubt. Mit dem Ärmel wischte Fritz eine Stelle frei und sah in sein vom Schrecken noch blasses Gesicht. Mitten auf seiner Stirn war ein ziemlich großer dunkler Fleck. Wieder durchfuhr Fritz ein Schrecken. Woher kam dieser Fleck?
Was, wenn der nicht zu entfernen war? Wenn es ewig dauern würde, bis er verblasst war?
Fritz lehnte sein heißes Gesicht an den kalten Spiegel und trat dann ein wenig zurück. Jetzt sah er, dass nicht seine Stirn sondern der Spiegel einen blinden Fleck* hatte.
Erleichtert verließ Fritz den Raum. Er zog das Jackett* des Vaters mit dem vertrauten Geruch feste um seine Schultern. Sicher würde Papa gleich wiederkommen.
*offizieller Mission = einen Auftrag haben; es machen dürfen
*Aufzeichnungen = anderes Wort für Notizen
*beeindruckten = findet er toll
*Gerümpel = viele alte Dinge, die niemand mehr haben möchte.
*ausgebesserten = repariert
*spähte = schaute vorsichtig
*schlüpfte = hier: er geht schnell hinein
*dämmrig = nicht hell, aber auch noch nicht dunkel
*schemenhaft = wie ein Schatten; du siehst nur die Umrisse
*prächtig = kostbar, wertvoll, sehr schön, glänzend,
*blinder Fleck = auf dem Spiegel ist eine dunkle Stelle. Da sieht man kein Spiegel-Bild. Der Spiegel ist da kaputt
*Jackett = Jacke
Die Geschichte zu dieser Geschichte
Zuerst einmal danke ich Angela für die Freigabe ihres Textes. Ich las ihn und wollte ihn unbedingt haben. Angela hat, ohne wirklich darauf abzuzielen, einen (beinahe) leichten Text geschrieben. Trotzdem ist er weder langweilig noch holprig. Eine ganze Geschichte – reduziert, spannend und mit Anfang und Ende.
Wörter, die meiner Erfahrung nach noch “schwer” sind, habe ich markiert und am Ende erläutert. Auf diese Weise kann nahezu jeder Text – auch richtig schwere Texte 😉 – so gestaltet werden, dass er mit unterschiedlichster Lesekompetenz genussvoll gelesen werden kann. Im Einzelfall können von mir als “schwere” Wörter für die meisten Leser einfach und selbstverständlich sein, andere, die ich für “leicht” erachtete, werden nicht verstanden. Ganz sicher kann ich mir als Übersetzerin immer nur dann sein, wenn ich den einzelnen Leser / die einzelne Lesergruppe genau kenne.
Zusätzlich unterstützen die Grafiken den Inhalt der Geschichte und sorgen für noch mehr leichtes Lesen.
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