Am Fuße des Berges
Leseprobe (c) Martina Decker
Der Sturm rüttelte an den Fensterläden. Regen fiel in dicken Tropfen aus den tief hängenden, fast schon schwarzen Wolken. Immer wieder zuckten Blitze über den Himmel und grollte dumpfer Donnerhall über die kleinen Häuser des Dorfes am Fuße eines riesigen Berges. Seine Spitze war auch bei schönem Wetter immer wolkenverhangen. Kein Mensch hatte sie je gesehen. Immer wieder waren mutige Männer aufgebrochen, den Gipfel zu erklimmen, aber keiner kehrte jemals zurück.
Hannes saß still in einer Ecke des kleinen Zimmers. Ängstlich schaute er zum Fenster hinaus. Dort draußen tobten die Naturgewalten und hätte Großmutter nicht eine Kerze entzündet, es wäre stockfinster gewesen in der Stube.Jetzt kam sie mit einer Tasse heißen Tees in der Hand auf Hannes zu und setzte sich neben ihn. Sie strich ihm beruhigend übers Haar.
»Habe ich dir eigentlich schon einmal die Geschichte von diesem Berg erzählt?«, fragte sie.
Hannes schüttelte den Kopf.
»Amahar, der Urzeitsänger, wohnt dort oben«, begann die Großmutter und deutete hinauf zum Gipfel. »Er schreibt und singt die Lieder des Lebens und der Natur. Dabei wird er geleitet von Idefesom, dem großen Geist.« Sie sah Hannes an. »Idefesom besitzt große Weitsicht und Amahar das Talent, alles in Einklang zu bringen.«
In Hannes, Augen lag ungläubiges Staunen.
Die Großmutter lächelte. »Ja, für wahr! Genauso ist es. Aber Amahar wohnt dort oben nicht alleine. Udakar, der Schmied, lebt ebenfalls auf dem Berg und auch Bodofila, die Maid der Lüfte. Sie zu beschreiben, ist allerdings schwierig. Sie kann sanft sein, aber auch aufbrausend und gewaltig.« Großmutter nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie weitersprach. »Udakar ist ein großer Mann. Mit seinen kräftigen Schlägen bringt er alles in der Natur in Form. Man mag es kaum glauben, aber trotz seiner riesigen Hände kann er die filigransten Blüten formen. Er hat den Berg noch nie verlassen, ebenso wenig wie Amahar.«
»Und sie waren noch nie woanders als auf dem Berg?« Hannes konnte sich nicht vorstellen, für immer auf einem Berg leben zu müssen.
»Nein, noch nie.« Großmutter nickte gedankenverloren. »In seiner Weisheit hatte Idefesom schon zu Anbeginn beschlossen, dass weder Amahar noch Udakar den Berg jemals verlassen sollen. So ist es die Aufgabe von Bodofila des Abends, wenn sie von ihren Ausflügen zurückgekehrt ist, von allem, was sie gesehen hat, zu berichten: Wie schön die Blüten des Enzians sind, die der Schmied geformt hat, wie herrlich die Blätter an den Blumen. Sie erzählt von der Harmonie der Lieder, die Amahar der Welt gegeben hat, verschweigt aber auch nicht die schiefen Töne, die ihr manches Mal zu Ohren kamen.« Die Großmutter hielt einen Augenblick inne. Ihr Blick wanderte von Hannes zum Fenster und wieder zurück.
Der Junge wartete gespannt, dass sie weiter reden würde. Ein Blitz erhellte das Zimmer, gefolgt von einem an einen Paukenschlag erinnernden Donnerknall. Hannes rückte erschrocken näher an die alte Frau heran.
»Es scheint, Udakar ist heute sehr ungehalten«, murmelte die Großmutter. »Vielleicht hat Bardaros es wieder versucht?«
»Wer ist Bardaros? Was hat er versucht?«, flüsterte Hannes.
»Bardaros – der Bote des Bösen«, sagte die Großmutter leise mit unheilvoller Stimme. »Manchmal kommt er aus der Unterwelt und versucht, den Gipfel zu erreichen. Du musst wissen, dem Bösen missfällt die Harmonie. Es hat keinen Sinn für die Schönheit der Natur und kann es nicht leiden, wenn alle sich gut vertragen.« Die Alte holte tief Luft. »Ja! Ich denke, das ist der Grund für dieses fürchterliche Unwetter. Hörst du den Sturm heulen? Das ist Bodofila. Sie scheint wirklich sehr wütend zu sein und wird Bardaros sicherlich bald fortpusten. Blitz und Donner macht Udakar. Mit aller Macht führt er den Hammer, dass die Funken fliegen und es nur so knallt. Ich bin mir sicher, sie werden es bald geschafft haben.« Sie nickte Hannes aufmunternd zu. »Dieser Macht hat das Böse nichts entgegenzusetzen. Amahar, Udakar und Bodofila werden Bardaros zurücktreiben in die dunklen Tiefen, aus denen er gekommen ist.«
Die Großmutter lehnte sich im Stuhl zurück. Hannes wollte gerade etwas sagen, als unerwartet ein Sonnenstrahl durchs Fenster drang. Gleich darauf versiegte der Regen. Der Sturm beruhigte sich und trieb mit letzter Kraft die dunklen Wolken fort.
Die Großmutter erhob sich aus ihrem Stuhl. Kraftvoll blies sie die Kerze aus und lächelte Hannes an. »Siehst du, ich habe es dir doch gesagt!«
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Am Fuße des Berges
Leseprobe (c) Martina Decker
Der Sturm rüttelte an den Fensterläden. Regen fiel in dicken Tropfen aus den tief hängenden, fast schon schwarzen Wolken. Immer wieder zuckten Blitze über den Himmel und grollte dumpfer Donnerhall über die kleinen Häuser des Dorfes am Fuße eines riesigen Berges. Seine Spitze war auch bei schönem Wetter immer wolkenverhangen. Kein Mensch hatte sie je gesehen. Immer wieder waren mutige Männer aufgebrochen, den Gipfel zu erklimmen, aber keiner kehrte jemals zurück.
Hannes saß still in einer Ecke des kleinen Zimmers. Ängstlich schaute er zum Fenster hinaus. Dort draußen tobten die Naturgewalten und hätte Großmutter nicht eine Kerze entzündet, es wäre stockfinster gewesen in der Stube.Jetzt kam sie mit einer Tasse heißen Tees in der Hand auf Hannes zu und setzte sich neben ihn. Sie strich ihm beruhigend übers Haar.
»Habe ich dir eigentlich schon einmal die Geschichte von diesem Berg erzählt?«, fragte sie.
Hannes schüttelte den Kopf.
»Amahar, der Urzeitsänger, wohnt dort oben«, begann die Großmutter und deutete hinauf zum Gipfel. »Er schreibt und singt die Lieder des Lebens und der Natur. Dabei wird er geleitet von Idefesom, dem großen Geist.« Sie sah Hannes an. »Idefesom besitzt große Weitsicht und Amahar das Talent, alles in Einklang zu bringen.«
In Hannes, Augen lag ungläubiges Staunen.
Die Großmutter lächelte. »Ja, für wahr! Genauso ist es. Aber Amahar wohnt dort oben nicht alleine. Udakar, der Schmied, lebt ebenfalls auf dem Berg und auch Bodofila, die Maid der Lüfte. Sie zu beschreiben, ist allerdings schwierig. Sie kann sanft sein, aber auch aufbrausend und gewaltig.« Großmutter nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie weitersprach. »Udakar ist ein großer Mann. Mit seinen kräftigen Schlägen bringt er alles in der Natur in Form. Man mag es kaum glauben, aber trotz seiner riesigen Hände kann er die filigransten Blüten formen. Er hat den Berg noch nie verlassen, ebenso wenig wie Amahar.«
»Und sie waren noch nie woanders als auf dem Berg?« Hannes konnte sich nicht vorstellen, für immer auf einem Berg leben zu müssen.
»Nein, noch nie.« Großmutter nickte gedankenverloren. »In seiner Weisheit hatte Idefesom schon zu Anbeginn beschlossen, dass weder Amahar noch Udakar den Berg jemals verlassen sollen. So ist es die Aufgabe von Bodofila des Abends, wenn sie von ihren Ausflügen zurückgekehrt ist, von allem, was sie gesehen hat, zu berichten: Wie schön die Blüten des Enzians sind, die der Schmied geformt hat, wie herrlich die Blätter an den Blumen. Sie erzählt von der Harmonie der Lieder, die Amahar der Welt gegeben hat, verschweigt aber auch nicht die schiefen Töne, die ihr manches Mal zu Ohren kamen.« Die Großmutter hielt einen Augenblick inne. Ihr Blick wanderte von Hannes zum Fenster und wieder zurück.
Der Junge wartete gespannt, dass sie weiter reden würde. Ein Blitz erhellte das Zimmer, gefolgt von einem an einen Paukenschlag erinnernden Donnerknall. Hannes rückte erschrocken näher an die alte Frau heran.
»Es scheint, Udakar ist heute sehr ungehalten«, murmelte die Großmutter. »Vielleicht hat Bardaros es wieder versucht?«
»Wer ist Bardaros? Was hat er versucht?«, flüsterte Hannes.
»Bardaros – der Bote des Bösen«, sagte die Großmutter leise mit unheilvoller Stimme. »Manchmal kommt er aus der Unterwelt und versucht, den Gipfel zu erreichen. Du musst wissen, dem Bösen missfällt die Harmonie. Es hat keinen Sinn für die Schönheit der Natur und kann es nicht leiden, wenn alle sich gut vertragen.« Die Alte holte tief Luft. »Ja! Ich denke, das ist der Grund für dieses fürchterliche Unwetter. Hörst du den Sturm heulen? Das ist Bodofila. Sie scheint wirklich sehr wütend zu sein und wird Bardaros sicherlich bald fortpusten. Blitz und Donner macht Udakar. Mit aller Macht führt er den Hammer, dass die Funken fliegen und es nur so knallt. Ich bin mir sicher, sie werden es bald geschafft haben.« Sie nickte Hannes aufmunternd zu. »Dieser Macht hat das Böse nichts entgegenzusetzen. Amahar, Udakar und Bodofila werden Bardaros zurücktreiben in die dunklen Tiefen, aus denen er gekommen ist.«
Die Großmutter lehnte sich im Stuhl zurück. Hannes wollte gerade etwas sagen, als unerwartet ein Sonnenstrahl durchs Fenster drang. Gleich darauf versiegte der Regen. Der Sturm beruhigte sich und trieb mit letzter Kraft die dunklen Wolken fort.
Die Großmutter erhob sich aus ihrem Stuhl. Kraftvoll blies sie die Kerze aus und lächelte Hannes an. »Siehst du, ich habe es dir doch gesagt!«
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