BeraTina Kurzgeschichte Novemberblues von Martina Decker

Novemberblues – eine Geschichte vom Abschiednehmen

(c) Martina Decker

Es hat sich in mir und meinem Leben ausgebreitet; hat alles andere verdrängt. Wie der Nebel dieser Tage alle Farben aus der Welt verdrängt. Wie die Totentage die Fröhlichkeit verdrängen. Wie Dunkelheit das Tageslicht verdrängt.

Vor drei Tagen nahm mein Ende seinen Anfang. Ein ganz gewöhnlicher Mittwoch.

Ich war pünktlich eine Minute vor dem Wecker wach. Stand nach dem zweiten Piepsen auf und putzte mir drei Minuten die Zähne. Schmierte mir vier Scheiben Brot und tat fünf Stunden, was getan werden musste. In der sechsten Stunde machte ich Pause. Aß einen Teller Kartoffelsuppe und checkte die Nachrichten auf meinem Parship-Account. Außer der Monatsrechnung und einer Information zur Änderung der AGB war da nichts.

Nach sieben Stunden Arbeit räumte ich auf und machte kurz vor Ablauf der achten Stunde Feierabend. Bis neun Uhr abends hatte ich zehnmal meinen Namen gegoogelt, mich in elf sozialen Netzwerken umgeschaut und zwölf Freundschaftsanfragen verschickt.

Ich kenne nicht eine dieser Personen.

Da sitze ich auf meinem Stuhl und starre mit leerem Blick auf den Bildschirm.

Im Wein liegt die Wahrheit, habe ich auf einem Kalenderblatt gelesen. Ich will WeinRot oder weiß – egal. Hauptsache, er bringt mir Wahrheit.

„Wollen Sie wirklich alles löschen?“

Sogar mein Computer zweifelt meine Entscheidungen an.

„Arschloch! Natürlich will ich!“

Meine Entscheidung ist längst gefallen.

Mein Herz versteht sie nicht.

Ich fühle mich schrecklich leer. Ob ich noch einen Teller Kartoffelsuppe esse?

Oma hat immer gesagt: „Vor lauter Globalisierung und Computerisierung dürfen die schönen Dinge des Lebens wie Kartoffeln oder Eintopf kochen nicht zu kurz kommen.“

Ach ne! Der Satz ist von Angela Merkel. 2004 – ihre Rede auf dem Hessentag in Heppenheim vor 4000 Landfrauen.

Oma war auch eine leidenschaftliche Landfrau. Der Spruch von der Kanzlerin hätte ihr gefallen. Leider war Oma da aber schon zwei Jahre tot. Herzinfarkt auf dem Trecker. War auch im November.

Schon seltsam. Bei uns sterben sie alle im November. Josef, ihr Bruder, gefallen in Russland; Vadder an Buß- und Bettag vor acht Jahren. Mutter auf den Tag ein Jahr später. Dem Alten sein Tod hat ihr das Herz gebrochen, sagen die Leut’ heute noch. Weiß nicht – kann aber gut möglich sein. Das war echt Liebe, was die beiden verbunden hat. Das hat man gemerkt.

Oma war diejenige, die immer für mich dagewesen war. Als kleiner Bub saß ich oft neben ihr oben auf dem Trecker und fabulierte in einem fort.

Als Schulkind las ich ihr meine Aufsätze vor und später meine Reportagen. Den Anfang meines nie beendeten Abenteuer-Romans ebenso wie die Verse, die ich verfasste.

Und immer hörte Oma geduldig zu. Lächelte. Steuerte dabei den Trecker über den Acker. Manchmal rührten meine Worte sie zu Tränen. Dann wusste ich, dass es gelungen war.

Und ausgerechnet in einem solchen Moment sah sie mich eines Tages an und sagte: „Kind, das kannste wirklich gut. Also, so Sachen schreiben und deine alte Oma damit zum Weinen bringen. Aber Kind, kannste denn eigentlich auch rechnen? Langsam ist es an der Zeit, dass du mal was Gescheites machst!“

„Aber ich will doch ein berühmter Schriftsteller werden“, antwortete ich voller Überzeugung, dass alles möglich war, wenn ich es nur wirklich wollte.

„Wenn du berühmt werden willst, musst du sterben!“ Und dann nannte sie mich einen Träumer. Auch sie hatte wohl nie wirklich geglaubt, dass ich es schaffen könnte.

Ich glaube es jetzt auch nicht mehr.

Ich gebe auf.

Der Träumer wird sterben.

Mein Entschluss steht fest.

Er hat sich ausgewachsen und alles andere verdrängt.

Wie der Nebel dieser Tage alle Farben aus der Welt verdrängt. Wie die Totentage die Fröhlichkeit verdrängen. Wie Dunkelheit das Tageslicht verdrängt.

Was werde ich sein, wenn ich kein Träumer mehr bin?

 

 

 

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